Physiotherapeuten, die in der Praxis eines anderen Physiotherapeuten gegen Honorar tätig sind, ohne selbst mit der Krankenkasse abrechnen zu dürfen, sind selbständig und nicht scheinselbständig. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie ein prozentual anteiliges Honorar erhalten, so jedenfalls das Landessozialgericht in Stuttgart:
„Gemessen an dem Vertrag, den die Antragstellerin und B mit Wirkung ab 1. November 2007 geschlossen haben, spricht viel für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit des B ab November 2007. Eine Weisungsbefugnis der Antragstellerin gegenüber B wurde in dem Vertrag ausdrücklich ausgeschlossen und nach den übereinstimmenden Angaben von B und der Antragstellerin auch nicht von der Antragstellerin tatsächlich in Anspruch genommen. Auch die Abrechnungspraxis spricht für eine Tätigkeit des B als sog freier Mitarbeiter. Er bekommt keine feste monatliche Vergütung, sondern nur einen prozentualen Anteil am Honoraraufkommen der von ihm behandelten Patienten. Der Hinweis der Antragsgegnerin, dass B deshalb kein unternehmerisches Risiko trage, weil er für jeden übernommenen Auftrag einen festgelegten Anteil an der vertragsärztlichen Vergütung erhalte, geht fehl. Entscheidend ist, dass er nur dann eine Vergütung erhält, wenn er Aufträge hat. Jeder niedergelassene Vertragsarzt hat die Sicherheit, dass er für die Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung ein Honorar erhält. Gleiches gilt für selbständige Physiotherapeuten wie die Antragstellerin. Wäre dieser Gesichtspunkt ausschlaggebend für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung, könnte kein Vertragsarzt und Physiotherapeut selbständig tätig sein. Diese Art der Vergütung bedeutet lediglich, dass die Antragstellerin für die Überlassung von Praxisräumen und ggf die Inanspruchnahme ihres Personals statt eines festen Betrages eine am Umsatz des B orientierte Beteiligung erhält. Die Tatsache, dass B nicht selbst mit den Kostenträgern abrechnet (und ggf auch nicht abrechnen darf), sondern dies die Antragstellerin für ihn übernimmt, schließt eine freie Mitarbeit in einer Praxis nicht aus (BSG, Urteil vom 14. September 1989, 12 RK 64/87, SozR 2200 § 165 Nr 96). Bei einem dem vorliegenden Fall vergleichbaren Sachverhalt hat der Senat eine freie Mitarbeit einer Krankengymnastin bejaht (Urteil vom 14. Oktober 2008, L 11 R 515/08, nv). Daher hat die Klage der Antragstellerin nach dem bislang bekannten Sachverhalt große Aussicht auf Erfolg. Allerdings hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass die endgültige Prüfung der Hauptsache vorbehalten bleibt.“
Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 11.05.2011 Aktenzeichen L 11 R 1075/11 ER-B
Die Beteiligten hatten einen freien Mitarbeitervertrag eingesetzt, den der Verband empfohlen hatte. Wenn sich bei der Durchführung keine Abweichungen ergeben, dürften diese Verträge jedenfalls in Baden-Wüttemberg richterlich abgesegnet sein.
Ob das jedes Landessozialgericht so sieht, bleibt dahingestellt. Inzwischen gibt es auch einige andere Entscheidungen, die von einer Scheinselbständigkeit dann ausgehen, wenn die Leistungen von der Praxis abgerechnet werden.
Update Mai 2016:
Bundessozialgericht zu Physiotherapeuten bzw. Krankengymnasten
Der 12. Senat des Bundessozialgerichts berichtet im einem Terminbericht über seine Sitzung vom 24. März 2016 zum Urteil zur Selbständigkeit / Scheinselbständigkeit von Physiotherapeuten, die als Honorarkraft / freie Mitarbeiter in fremder Praxis tätig sind.
Zum Sachverhalt und zur Vorgeschichte des Rechtsstreits schreibt das Bundessozialgericht:
Die Klägerin betreibt eine Praxis für Physiotherapie und beschäftigt ua für die Behandlungen drei Vollzeit- und zwei Teilzeitkräfte. Die ‑ freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versicherte ‑ Beigeladene zu 1. war für die Klägerin seit 2001 als Krankengymnastin tätig, daneben für ein Therapiezentrum; sie verfügte bis 2007 weder über eine eigene Krankenkassenzulassung noch über eigene Geschäftsräume oder Arbeitnehmer; Zahlungen seitens der Klägerin an die Beigeladene zu 1. erfolgten ‑ ohne dass ein festes Stunden- oder Monatsentgelt vereinbart war ‑ in Form einer prozentualen Vergütung abhängig von der Anzahl der von ihr behandelten Patienten. Nach einer von der Beklagten als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) durchgeführten Betriebsprüfung (Prüfzeitraum 2004 bis Ende 2007) setzte sie Anfang 2009 gegenüber der Klägerin wegen Beschäftigung der Beigeladenen zu 1. eine Beitragsforderung über insgesamt 27 262,63 Euro fest (Beiträge zur GKV, zur sozialen Pflegeversicherung , zur GRV und nach dem Recht der Arbeitsförderung sowie Umlagebeträge, ferner Säumniszuschläge). Nach erfolglosem Widerspruch hat das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass die Beigeladene zu 1. seit 2004 nicht bei der Klägerin beschäftigt gewesen sei.
Das LSG hat die von der Beklagten eingelegte Berufung in Bezug auf die erhobenen Säumniszuschläge zurückgewiesen und im Übrigen unter Änderung des SG-Urteils die Klage abgewiesen: Trotz zahlreicher Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit der Beigeladenen zu 1. überwögen die für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei der Klägerin sprechenden Indizien (insbesondere: rechtliche Ausgestaltung, Eingliederung in den Betrieb, fehlende eigene Betriebsstätte, fehlendes Unternehmerrisiko). Besonders sei zu berücksichtigen, dass die vertragliche Ausgestaltung der Rechtsbeziehung durch zwingende Vorgaben des Leistungserbringerrechts des SGB V definiert sei, weil allein die Klägerin die Leistungen abrechne, für diese verantwortlich sei und sie daher eine entscheidende Weisungs- und Entscheidungsbefugnis habe. Diese Bindungen könnten zur Beurteilung des Bestehens eines Beschäftigungsverhältnisses nicht außer Acht gelassen werden. Zu Unrecht seien allerdings Säumniszuschläge erhoben worden, weil die Klägerin glaubhaft gemacht habe, „unverschuldet von ihrer Beitragspflicht keine Kenntnis“ gehabt zu haben.
Hiergegen wenden sich die Klägerin mit ihrer Revision sowie die Beklagte mit ihrer Anschlussrevision.
Die Klägerin rügt eine Verletzung von § 7 Abs 1 S 1 SGB IV: Die Beigeladene zu 1. sei ‑ vergleichbar einem Subunternehmer im werkvertraglichen Bereich ‑ freiberuflich tätig geworden. Dass sie (die Klägerin) aufgrund ihrer Krankenkassen-Zulassung die Haftung und Verantwortung auch für die von der Beigeladenen zu 1. erbrachten Leistungen treffe, belege kein arbeitsvertragliches Weisungsrecht. Einer eigenen Betriebsstätte habe die Beigeladenen zu 1. nicht bedurft, auch, weil überwiegend Hausbesuche erfolgt seien; sie habe mit Blick auf die Nutzung eines eigenen PKWs und einer abgeschlossenen eigenen Haftpflichtversicherung ein Unternehmerrisiko getragen und sei zudem noch für ein weiteres Therapiezentrum tätig gewesen.
Die Beklagte sieht mit ihrer Anschlussrevision § 24 Abs 2 SGB IV als verletzt an. Die Klägerin müsse auch 6656,50 Euro Säumniszuschläge zahlen, weil es nicht „unverschuldet“ sei, wenn sie sich zur Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1. nicht bei einer sachkundigen Stelle informiere.
Nach dem Terminbericht des BSG blieb die Revision erfolglos, das Bundessozialgericht ist also der Ansicht, dass die Physiotherapeutin nicht wirklich selbständig war:
1) Die Revision der Klägerin blieb erfolglos. Das LSG ist zutreffend von den in der Rspr des BSG zum Vorliegen von Versicherungspflicht begründender Beschäftigung aufgestellten Grundsätzen ausgegangen und beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beigeladene zu 1. in ihrer Tätigkeit als Physiotherapeutin für die Klägerin versicherungspflichtig beschäftigt war. Zwar gibt es Indizien, die für Selbstständigkeit sprechen (zB: Wille der Vertragsparteien zu „freier“ Mitarbeit, fehlende feste Arbeitszeit, zeitabhängige Vergütung, Vertretungsregelungen und Bindung an Öffnungszeiten/Anwesenheitspflichten; Recht zur Ablehnung von Aufträgen; überwiegende Tätigkeit in Form von Hausbesuchen mit eigenem PKW; Abrechnungsweg). Allerdings spricht für Beschäftigung die Eingebundenheit der Beigeladenen zu 1. in die betriebliche Organisation der Klägerin (etwa: Herstellung des Erstkontakts zu den Patienten allein durch die Klägerin, bei zugleich alleinigem Auftreten nach außen sowie als verantwortliche Praxisbetreiberin und Heilmittelerbringerin; Fehlen einer eigenen Patientenkartei und eigener Betriebsräume der Beigeladenen zu 1.; Erstattung von Fahrtkosten bei Hausbesuchen; Zurverfügungstellen von Arbeitsmitteln und ‑ nach Absprache ‑ von Behandlungsräumen). Unternehmerische Freiheiten der Beigeladenen zu 1. bzw ein sie treffendes Unternehmerrisiko bestanden allenfalls ansatzweise, ohne dass sie nach außen wahrnehmbar selbst unternehmerisch am Markt auftrat. Leistungen wurden auch nur in eigener Person und nicht durch eigene Mitarbeiter der Beigeladenen zu 1. erbracht. In Abwägung aller angesprochenen Indizien ist es nicht fehlerhaft, wenn das LSG zum Status als Beschäftigte gelangte. Allerdings kann entgegen der Ansicht des LSG ‑ ohne dass sich an der Gesamtabwägung etwas ändert ‑ dieses Ergebnis nicht zusätzlich auch darauf gestützt werden, dass die rechtliche Beziehung zwischen der Klägerin und der Beigeladenen zu 1. durch das Leistungserbringerrecht der GKV im Sinne allein zulässiger Beschäftigung vorbestimmt sei. Zwingende rechtliche Vorgaben dürfen bei der sozialversicherungsrechtlichen Statusbeurteilung zwar grundsätzlich nicht außer Acht gelassen werden, jedoch ergibt sich hieraus nicht per se ein bestimmtes Ergebnis (ähnlich bereits für Tätigkeiten im Bereich der Jugendhilfe BSG SozR 4-2400 § 7 Nr 15). Unbeschadet dessen ermöglicht es die Rspr des 3. Senats des BSG zu den Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und einem zugelassenen Heilmittelerbringer auch, für die Leistungserbringung freie Mitarbeiter einzusetzen (BSG SozR 3-2500 § 124 Nr 1).
Die wegen der Erhebung von Säumniszuschlägen eingelegte Anschlussrevision der Beklagten war im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG erfolgreich: Die Feststellungen des LSG tragen nicht die von ihm angenommene teilweise Rechtswidrigkeit des Bescheides. Für die Annahme unverschuldeter Unkenntnis von der Zahlungspflicht iS von § 24 Abs 2 SGB IV muss vorliegend ermittelt und festgestellt werden, ob und inwieweit die an der klagenden GbR beteiligten Personen Kenntnis von der sie vermeintlich begünstigenden Rechtsprechung (hier: BSG SozR 2200 § 165 Nr 96) hatten und dass sie hieraus einen jede Form von Fahrlässigkeit ausschließenden Grad der Überzeugung vom Status der Beigeladenen zu 1. als freie Mitarbeiterin gewinnen durften. Ein Arbeitgeber kann bei Unklarheiten über die versicherungs- und beitragsrechtliche Beurteilung einer Tätigkeit im Einzugsstellenverfahren oder im Anfrageverfahren nach § 7a SGB IV Gewissheit durch Herbeiführung einer verbindlichen Entscheidung erlangen; das Absehen davon kann vorwerfbar sein (vgl BSGE 109, 254 = SozR 4-2400 § 14 Nr 13).
SG Hannover – S 6 R 395/09 –
LSG Niedersachsen-Bremen – L 1 KR 351/12 –
Bundessozialgericht – B 12 KR 20/14 R
Das Urteil wird im Internet als Beleg dafür zitiert, dass Physiotherapeuten in fremder Praxis nicht scheinselbständig sind. Das Bundessozialgericht aber war der Meinung, dass die beteiligte Physiotherapeutin scheinselbständig war. Allerdings sagt das Bundessozialgericht deutlich, dass alleine die Tatsache, dass der Praxisinhaber mit den Kassen abrechne, nicht automatisch zu einer abhängigen und damit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung führe. Umso wichtiger ist es, die Kriterien ernst zu nehmen, die das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung benennt, sowohl im Guten wie im Schlechten.
Mehr dazu im Rechtslexikon „Scheinselbständigkeit“
Michael W. Felser
Rechtsanwalt
Interviews zum Thema Scheinselbständigkeit:
(1) Computerwoche vom 04.08.2014: Verunsicherung im Markt I Scheinselbständig: IT-Freiberufler im Visier der Rentenversicherung? von Andrea König (Autor) mit Interviewzitaten Rechtsanwalt Felser [21]
(2) Verbraucherportal Biallo vom 05.12.2011: Selbstständig im Nebenberuf – Tipps und Fallstricke. Ein Beitrag von Rolf Winkel mit Interviewzitaten Rechtsanwalt Felser [22]
(3) Lohn und GehaltsPROFI aktuell 2/2011: Sonderausgabe Scheinselbständigkeit: Verstärkte Prüfungen [23]. Beiträge von Chefredakteur Lutz Schumann und Rechtsanwalt Michael W. Felser.
(4) Allgemeine Hotel- und Gastronomie-Zeitung (AHGZ) 2008/40 (Seite 15): Selbständig oder nur zum Schein. Urteil zur Selbstständigkeit verunsichert das Gastgewerbe. Aber Vorsicht: „Die Feststellung ist keineswegs rechtskräftig“, warnt Michael W. Felser, Rechtsanwalt aus Brühl. Ein Beitrag von Norbert Sass mit Interview von Rechtsanwalt Felser. [24]
(5) „BKK Zollern-Alb Business“ Heft 2 2002 (Seite 6/7): Scheinselbständigkeit – programmierter Ruin. Ein Beitrag von Jürgen Ponath mit Interview Rechtsanwalt Felser.[25]
(6) Financial Times Deutschland vom 27.6.2000: „Rentenkasse versperrt Selbstständigen die Flucht. Für Selbstständige in Deutschland wird es schwerer, sich der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu entziehen.“ Ein Beitrag von Margarethe Heckel mit Zitaten aus einem Interview mit Rechtsanwalt Felser [26]